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more than human. design nach dem anthropozän

Das Kunstgewerbemuseum startet eine neue diskursive Plattform mit Pop-up-Ausstellungen, Vorträgen, Workshops und Diskussionspanels, um sich mit dem Konzept des »more than human« aus der Perspektive der Gestaltungsdisziplinen, insbesondere des Designs, auseinanderzusetzen. Parallel entsteht eine spekulative Wunderkammer, die auch bislang vernachlässigte Beiträge von nicht-menschlichen Akteur:innen berücksichtigen wird.
»More than human« umfasst ein Spektrum an transdisziplinären Theorien und Ansätzen, in denen anthropozentrische Perspektiven in Frage gestellt und ein Paradigmenwechsel hin zu einer intensiveren Vernetzung zwischen Mensch und Umwelt eingefordert werden. Die amerikanische, feministische Wissenschaftlerin Donna Haraway führte den Begriff »Natureculture« in den Diskurs ein, um auf die existenten Verflechtungen menschlicher und nicht-menschlicher Spezies auf unserem Planeten hinzuweisen. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Natur und Kultur erfordert zugleich neue Denkweisen in Bezug auf Macht und Handlungsfähigkeit, Differenz und Gemeinschaftlichkeit, Atmosphären und Erkenntnistheorie. 
»More than human« reflektiert ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, nicht nur die alleinigen Bedürfnisse des Menschen, sondern auch die Bedürfnisse anderer Spezies wie Pflanzen, Tiere, Insekten, Mikroorganismen oder ganze Ökosysteme in verantwortungsbewusste Gestaltungs-, Forschungs- und Innovationsprozesse einzubeziehen. 
Vor dem Hintergrund der aktuellen Klimakrise und wachsender Ressourcenknappheit stehen Gestaltungsdisziplinen wie Architektur und Design zunehmend auf dem Prüfstand. Daher stellt sich die Frage: Was bedeutet »more than human« für ein Designkonzept bzw. für eine Designphilosophie, die primär den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt? Was bedeutet Gestaltung jenseits der immer noch gültigen Fortschrittsvision der Moderne? Welche alternativen Aktionsräume eröffnen sich für eine bislang auf Ausbeutung von Lebensformen und Ressourcen ausgelegte Produktionspraxis? 

Wie kann ein ganzheitlicher Gestaltungsprozess aussehen, der die Integration von nicht-menschlichen Lebensformen und Ökosystemen berücksichtigt? Wer sind die Akteur:innen einer solchen Transformation? Welche Rolle spielen Technologien und Künstliche Intelligenz in diesen »verflochtenen Geschichten« (entangled histories)?
Designmuseen und Museen für Kunstgewerbe spiegeln eine anthropozentrische Sichtweise wider, denn ihre Sammlungen beschränken sich in der Regel auf menschengemachte Objekte, die eine ästhetische, technologische oder kulturelle Bedeutung besitzen. Diese Museen tragen jedoch nicht nur zur Bewahrung dieser Artefakte bei, sondern sie prägen auch das Verständnis und die Wertschätzung von Design in der Öffentlichkeit. Auswahl, Präsentation und Interpretation ihrer Sammlungen spielen dabei eine entscheidende Rolle, welche Designgeschichten erzählt werden und welche unerzählt bleiben.
Das Konzept des »more than human« bildet die Grundlage für einen Paradigmenwechsel hin zu artenübergreifenden Formen der Wissensproduktion. Welche Perspektiven eröffnen sich dadurch für die Designmuseen, für ihre Sammlungen, für ihre Ausstellungspraxis, für ihr Storrytelling? Welche Herausforderungen müssen sich die Designmuseen der Zukunft stellen, welche Grenzen müssen sie überschreiten? Welche Rolle können insbesondere Designmuseen als Katalysatoren für eine Entwicklung resilienter Designpraktiken spielen? Wie können sie dazu beitragen, Wahrnehmung und Bewusstsein der Öffentlichkeit für diese ganzheitlichen Gestaltungsansätze zu sensibilisieren? Und wie könnten Museen als gebaute Umwelten, insbesondere das Berliner Kunstgewerbemuseum, in Orte transformiert werden, an denen Menschen und nicht-menschliche Akteur:innen sich auf Augenhöhe begegnen und miteinander in den Austausch treten können?

Kuratorin

Claudia Banz (Kunstgewerbemuseum, Berlin)

© Kunstgewerbemuseum Berlin, 2024