multispecies design2

23.3.24 multispecies design2 das kunstgewerbemuseum als interspezies begegnungsort?

Der Begriff »Multispecies Engagement« fasst aufkommende Strömungen aus den Human-, Natur- und Gestaltungswissenschaften zusammen. Diese Strömungen haben zum Ziel, nicht nur die alleinigen Bedürfnisse des Menschen, sondern auch die Bedürfnisse anderer Spezies wie Pflanzen, Tiere, Insekten, Mikroorganismen oder ganze Ökosysteme in verantwortungsbewusste Gestaltungs-, Forschungs- und Innovationsprozesse einzubeziehen. Dieser Wandel bildet die Grundlage für einen Paradigmenwechsel weg von einem anthropozentrischen und westlich geprägten Naturverständnis hin zu artenübergreifenden Formen der Wissensproduktion. Der Mensch wird nicht mehr als dominierende Spezies betrachtet, sondern als Teil komplexer Ökosysteme.
Dieser »Multispecies Turn« zeigt, dass es wichtig ist, planetare Herausforderungen wie Artensterben, steigende Temperaturen und Extremwetterereignisse nicht länger nur aus der Sicht von Menschen zu betrachten. Die Komplexität gesunde Ökosysteme zu erhalten ist hoch, und das menschliche Wissen und Fähigkeiten dazu sind begrenzt. Tatsächlich sind noch viele Aspekte des Lebens unerforscht, insbesondere diejenigen, die für den Menschen schwer greifbar sind, wie Mikroorganismen, Insekte oder Tiefsee-Bewohner. Manche Arten drohen auszusterben, bevor wir sie entdecken. Die Zukunft der Menschheit ist nicht abhängig von technologischem Fortschritt, sondern davon wie wir unsere Umwelt in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einbeziehen. Dieser Paradigmenwechsel geht über Umweltschutzstrategien hinaus – die Natur wird hier als Vorbild und Lehrerin zu wertvollen Lektionen für Resilienz, Anpassung und Kreativität.
Doch wie gelingt ein solcher Paradigmenwechsel in unserem täglichen Handeln?
Pioniere dieses Denkens sind Theoretiker wie Donna Haraway oder Bruno Latour, die die traditionelle Trennung zwischen Natur und Kultur herausfordern und die komplexen und wechselseitigen Verflechtungen zwischen Menschen, Tieren und der Umwelt betonen. Zentrale Ansätze und Methoden aus der Anthropologie, wie das Konzept der »Multispecies Ethnography« von Eben Kirksey oder Anna Tsing, bereichern diesen Diskurs mit inklusiven methodischen und theoretischen Grundlagen. Sie heben die untrennbare Verbindung zwischen Mensch und Natur hervor und ermöglichen Einblicke in die komplexen Beziehungen. Auch in der Naturwissenschaft und Evolutionsforschung wird die artenübergreifende Kollaboration als grundlegendes Prinzip für die Entstehung und den Erhalt vielfältiger Ökosysteme diskutiert und verstanden. Symbiosen zwischen Algen und Pilzen, Kollaboration zwischen Insekten und Pflanzen hin zu den Mikroorganismen in unserem Darm – ohne Kollaboration wäre das Leben auf diesem Planeten nicht möglich. Weitere Ansätze lassen sich auch in politikwissenschaftlichen Diskursen finden, die die Notwendigkeit von Naturrechten hervorheben und sich in verfassungsrechtlichen Konzepten wie »Sumac Kawsay« in Ecuador oder dem »Te Awa Tupua Act« in Neuseeland wiederfinden. 
Diese Ansätze gewinnen zunehmend an Bedeutung in Gestaltungsdisziplinen wie Multispecies Design, Interspecies Design oder Xeno Design. Während bisherige Disziplinen wie Inclusive Design oder Social Design die Möglichkeit aufzeigen, gesellschaftlich relevante Lösungen für komplexe Herausforderungen durch den Einbezug von Expert:innen des Alltagslebens entlang ihrer Bedürfnisse zu entwickeln (Human Centred Design), stellen die Multispecies-Ansätze nun die Frage, wie auch nicht menschliche Perspektiven in Gestaltungsprozessen berücksichtigt werden können.
Der Ansatz des »Multispecies Engagement« ist eine Einladung, Brücken zwischen Gestaltungsdisziplin, Wissenschaft, Politik, Natur und Gesellschaft zu bauen. Inspiriert von aktuellen Partizipationsstrategien und Public-Engagement-Initiativen plädiert das Konzept dafür, den Begriff der Gesellschaft um nicht menschliche Akteure zu erweitern und ihren Einbezug als ethischen Standard in sozio-ökologischen Wissensproduktionsprozessen zu etablieren. Es betont die Notwendigkeit, sowohl menschliche als auch nicht menschliche Interessengruppen in gesellschaftsorientierte Innovationsprozesse einzubeziehen. Dabei unterstreicht es die entscheidende Rolle von Gestaltung und Designforschung als erweiterte Form der Wissensproduktion, die interdisziplinäres Wissen zusammenführt, Empathie erzeugt und Perspektivenvielfalt in anwendungsorientierte Handlungsoptionen einbringt.

Urbane Räume sind zum festen Teil planetarer Ökosysteme geworden. Einige Arten, wie Füchse passen sich erstaunlich schnell an diese Strukturen an und finden dabei neue, ungewohnte Lebensräume. Gleichzeitig werden andere Arten, insbesondere Insekten, durch Flächenversieglung oder Invasion anderer Spezies verdrängt und benötigen dringend neue Habitate im urbanen Umfeld. 
Städte entwickeln sich damit zu einer neuen Form urbaner Wildnis und einem more than human Co-Habitat. Obwohl diese Räume vorwiegend nach menschlichen Bedürfnissen, insbesondere nach Architektur- und Mobilitätsansprüchen gestaltet werden, entsteht für die Menschen langfristig wenig Lebensqualität, wenn die Notwendigkeit von wilden Grün- und Brachflächen kaum Berücksichtigung findet. Diese Flächen bieten schützenswerten Lebensräume für nicht menschliche Stadtbewohner, die ein relevanter Teil dieser Ökosystems sind. Vor dem Hintergrund steigender Temperaturen, dem Verlust der Artenvielfalt und dem Aufkommen invasiver Arten, muss die nachhaltige Nutzung dieser Räume neu verhandelt werden. 
Unter dem Stichwort »Conservation everywhere«, setzt dieser Workshop neue Umweltschutz-Strategien in den Fokus, die Strukturen des Anthropozäns, wie Gebäudefassaden, Dächer, Grünanlagen oder Abwassersysteme als neuen, festen Bestandteil planetarer Ökosystemen begreifen und hinterfragen, wie diese bewusst für einen zukunftsorientierten Umweltschutz genutzt werden können. Natur und Stadtraum stehen hier nicht mehr im Widerspruch. Vielmehr öffnen diese Ansätze einen Denkraum, der dazu einlädt darüber zu spekulieren, wie Natur in den städtischen Alltag bewusst integriert und unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden können. Wie können wir unsere Lebensräume nicht nur für, sondern mit nicht-menschlichen Akteuren gestalten und teilen?

Workshop Inhalt / Ablauf: 

In diesem Workshop wird das Kunstgewerbemuseum selbst zu einem Explorationsgegenstand für Multispecies Design. In einer Expedition durch die urbane Wildnis des Außengeländes des Kunstgewerbemuseums, laden wir dazu ein, über mögliche Nutzungspotenziale dieser unscheinbaren Ökosysteme für Tiere, Pflanzen, Insekten, Pilze und Mikroorganismen zu spekulieren. Das Ziel ist es, durch kreative Methoden aus dem Speculative Design, gemeinsame Ideen, Visionen sowie auch kritische Fragen zu formulieren, die dazu anregen, museale Räume als Multispecies Begegnungsort zu reflektieren. 

  • Welche Potenziale bieten ungenutzte Außenräume musealer Architektur für nicht-menschliche Akteure?
  • Wie kann das Museum zu einer »urbanen Arche« für vom Klimawandel bedrohte Arten werden?
  • Welchen Beitrag liefert Multispecies Design für die Gestaltung und Verhandlung artengerechter Lebensräume?
  • Welche Kollaborationen zwischen Stadtgesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Naturschutz können hier entstehen?

Darüber hinaus vermittelt dieser Workshop einen kurzen Einblick, warum Städte so besondere Lebensräume sind, und mit welchen möglichen Maßnahmen sie artengerechter gestaltet werden. Dabei werden Einblicke in die facettenreiche Wildnis Berlins und seine Nicht-Menschlichen Akteure gegeben. 
Teilnehmende benötigen keine fachlichen Vorkenntnisse. Der Workshop richtet sich an alle, die sich für die Schnittstelle zwischen Design, Kunst, Naturwissenschaft und Umweltschutz begeistern und nach Inspiration suchen, die eigene Praxis oder den Alltag »more than human friendly« zu gestalten. Praktisches und methodisches Know-how zu Multispecies und Speculative Design Praktiken werden geteilt und können erkundet werden. Die Ideen, die in diesem Workshop entstehen werden, werden Teil einer Popupausstellung im Rahmen des »more than human« Projektes (Herbst 2024). Der Workshop lädt ein zum Vernetzen, Kollaborieren und Austauschen. 

Kuratorin

Lynn Harles (Studio Harles, Berlin)

23.3. 14—17:30Uhr
Kunstgewerbemuseum Berlin
Innenhöfe und Umgebung
Matthäikirchplatz, 10785 Berlin

Hinweis: Der Workshop wird größtenteils draußen stattfinden, daher werden wetterfeste Kleidung und Schuhe empfohlen.

Datenschutzhinweis: Die Veranstaltung wird fotografisch dokumentiert und auf der Website veröffentlicht

© Kunstgewerbemuseum Berlin, 2024