Im Rahmen des »more than human«–Projekts wird das Konzept der »Kunst- und Wunderkammer« reaktiviert, um Objekte aus den Sammlungen des Berliner Kunstgewerbemuseums mit zeitgenössischen Design- und Kunst-Projekten, Prototypen und anderen Artefakten neu zu kontextualisieren.
Die aktuelle Intervention »Wunderkammer #3« erweitert die Multimedia-Installation der slowenischen Künstlerin Robertina Šebjanič »Lygophilia. Aquatic Life: A Symbol of Extinction, Scientific Wonder, and Cultural Heritage«, die parallel im Kunstgewerbemuseum gezeigt wird.
Im Fokus stehen Exponate, die inhaltlich und gestalterisch die Welt der Amphibien und Reptilien sowie verschiedener Fabel-Mischwesen aufgreifen. Diese Objekte spiegeln in ganz unterschiedlicher Weise die menschliche Faszination für Doppelkreaturen, seine Neugier und Sehnsucht nach Verwandlung und Grenzüberschreitung wider.
»Kunst- und Wunderkammern« haben ihre Wurzeln in der Renaissance und entstanden als private Sammlungen von Fürst:innen, Adeligen und Gelehrt:innen. Sie wurden als Mikrokosmos gestaltet, um die Vielfalt des Makrokosmos Erde abzubilden. Die Sammlungen umfassten neben verschiedensten Kunstwerken eine breite Palette von Objekten, darunter exotische Tiere, seltene Pflanzen, Mineralien oder wissenschaftliche Instrumente. Oft waren sie auch mit Gegenständen durchsetzt, die das Magische und Unbekannte berührten. Diese Vermischung des Empirischen mit dem Spekulativen diente nicht nur der Faszination und dem Staunen, sondern auch der Anregung von Neugier und der Erkundung der Grenzen menschlichen Wissens.
»Kunst- und Wunderkammern« spiegel(te)n ein Weltbild wider, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, fließend waren bzw. sind.
Der mexikanische Axolotl (Ambystoma mexicanum) stammt ursprünglich aus der Seenlandschaft in der Umgebung von Mexiko-Stadt. Im Rahmen einer kolonialen Expedition nach Mexiko, das sich seit 1861 unter französischer Herrschaft befand, wurden 1864 insgesamt 34 lebende Axolotl nach Paris gebracht. Dort wurden sie ihm Rahmen eines großangelegten Forschungsprojektes zur Akklimatisierung von Tieren, Pflanzen und Menschen untersucht. Ziel war es, herauszufinden, inwieweit man Lebewesen an neue Umweltbedingungen anpassen konnte.
Der deutschen Naturforscherin Marie von Chauvin (1848–1921) gelang es, die Tiere durch die gezielte Veränderung ihrer Lebensbedingungen zur Metamorphose zu bringen. Durch die langsame Reduktion des Wasserspiegels bildeten die ursprünglich im Wasser lebenden Axolotl ihre Kiemenquasten zurück, entwickelten die Lungenatmung und wurden somit zu Landtieren.
Heute werden Axolotl insbesondere in der Entwicklungsbiologie und Regenerationsforschung eingesetzt: Die Amphibien besitzen die besondere Fähigkeit, Extremitäten, ja sogar Organe und Teile des Gehirns wiederherzustellen. Während die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum inzwischen vom Aussterben bedroht sind, leben Millionen von Exemplaren in zahlreichen Laboren und Heimaquarien in der ganzen Welt.
Hybride Mischwesen finden sich in der Kulturgeschichte seit der Antike: Sie stammen aus dem Zeitalter der Götter und Heroen und künden von Entdeckungsreisen in unbekannte Territorien. Die zahlreichen Darstellungen erzählen von Hero:innen im Kampf mit den Fabelwesen und deren siegreicher Bezwingung.
Mit der Ausbreitung des Christentums im Mittelalter wird der Drache zu einem wichtigen Sinnbild für das Böse. Als fester Bestandteil unterschiedlicher Bildprogramme, die von der Buchmalerei über die Skulptur bis hin zur Bauornamentik reichten, konnte der Drache ganz unterschiedliche Gestalt annehmen: aber immer war er ein Mischwesen aus Reptil, Vogel und Raubtier, manchmal mit bis zu sieben Köpfen ausgestattet.
Beeinflusst durch die chinesische, japanische und islamische Kunst überlagern sich kulturell unterschiedliche Drachendarstellungen und -deutungen. Parallel entwickelt sich die Drachengestalt zu einem wichtigen Ornament. So findet man sie häufig in Form von Griffen, Henkeln und als Dekor an und auf den unterschiedlichsten Gefäßen und anderen Objekten.
Das achteckige, aufklappbare Amulett aus Bergkristall diente ursprünglich der Aufnahme von Krebsaugen. Die verwirrende Bezeichnung dieser Substanz hat nichts mit den Augen der Tiere zu tun: Krebsaugen sind kleine, flache weiße Kalksteine mit einem wulstigen Rand, die sich im Magen von Flusskrebsen bilden und während der Häutung ausgeworfen werden.
Neben dem Einsatz gegen Sodbrennen, Krämpfe und Fieber wurden Krebsaugen auch bei Augenleiden benutzt. Pulverisiert und einer Salbe beigegeben, sollten sie vor allem den grauen Star verhindern. Verbunden mit dem Bergkristall, der dem Volksglauben zufolge vor Durst schützte und bei Kühlung, Blutsturz oder Zahnschmerzen half, wurde das Amulett nicht nur als dekorativer Schmuck getragen. Aufgrund seiner wertvollen Materialität besaß es der Volksmedizin nach abwehrende wie heilende Kräfte und diente somit auch als Arzneimittel.
Für die Künstler:innen des Jugendstils diente die Natur als wichtigste Inspirationsquelle und ästhetisches Vorbild. Darstellungen von Tieren aller Art gehören neben der Pflanzenwelt zu den zentralen Motiven, sowohl wegen ihrer symbolischen Bedeutung als auch wegen ihrer natürlichen Schönheit. Wichtige Anregungen bezogen die Künstler:innen außerdem aus den naturwissenschaftlichen Publikationen wie dem bahnbrechenden, 1904 veröffentlichten Bildband »Kunstformen der Natur« des deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919).
Das große Interesse an der Tierwelt spiegelt sich vor allem im Jugendstilporzellan und der Keramik wider: Vollplastisch ausgearbeitete Tiere findet man auf Vasen, Schalen oder Tellern oder als eigenständige Plastik. Vor allem Tiere mit geschmeidigen Körpern wie Schlangen, Salamander, Eidechsen oder Schwäne interessierten die Jugendstilkünstler:innen. Sie entsprachen ihrer Vorliebe für organisch fließende Bewegungen und Formen ebenso wie die filigranen Flügel der Schmetterlinge und Libellen. Auch faszinierte sie die Verwandlungsfähigkeit einiger dieser Tiere, die an die dunkle, unbekannte Seite der Natur erinnerte.
Kunstgewerbemuseum Berlin, 2024