Wunderkammer 1

wunderkammer set #1

Die erste Ausgabe der Intervention »Wunderkammer« erweitert die Ausstellung »Imagine. Coral Reef. Regenerative Design« mit weiteren Exponaten und vernetzt sie außerdem mit der Sammlung des Kunstgewerbemuseums: Das Korallenriff dient nicht nur als Denkmodell für den Klimawandel, sondern auch für den Lebensraum Wasser. Die verlockende Weite und rätselhafte Tiefe der Meere zog von jeher Forscher und Künstler an und bildet(e) eine wichtige Inspirationsquelle an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft.

intervention »wunderkammer«
Im Rahmen des »more than human«–Projekts soll das Konzept der »Wunderkammer« reaktiviert werden, um Objekte aus den Sammlungen des Kunstgewerbemuseums mit Leihgaben aus anderen Museen sowie zeitgenössischen Design-Projekten, Prototypen, Artefakten oder Interventionen in einen neuen Dialog zu stellen. 
»Wunderkammern« haben ihre Wurzeln in der Renaissance und entstanden als private Sammlungen von Fürst:innen, Adeligen und Gelehrten. Sie spiegelten ein Weltbild wider, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, fließend waren. 
»Wunderkammern« wurden als Mikrokosmos gestaltet, um die Vielfalt des Makrokosmos Erde in einem oder mehreren Räumen abzubilden. Die Sammlungen umfassten neben verschiedensten Kunstwerken eine breite Palette von Objekten, darunter exotische Tiere, seltene Pflanzen, Mineralien oder wissenschaftliche Instrumente. Oft waren diese Sammlungen auch mit Gegenständen durchsetzt, die das Übernatürliche, Magische und Unbekannte berührten. Diese Vermischung des Empirischen mit dem Spekulativen diente nicht nur der Faszination und dem Staunen, sondern auch der Anregung von Neugier und der Erkundung der Grenzen menschlichen Wissens.
»Wunderkammern« waren Vorläufer des modernen Museums, da sie auch den Wert der öffentlichen Bildung und der Zugänglichkeit von Wissen hervorhoben. Sie förderten einen multidisziplinären Ansatz, der das enzyklopädische Sammeln, Kategorisieren und Präsentieren von Objekten aus verschiedenen Wissensbereichen ins Zentrum rückte. Aspekte des Raren und Kostbaren des Materials, der Virtuosität und Künstlichkeit der Verarbeitung und Verfremdung, der absoluten Seltenheit oder historischen Einmaligkeit in Bezug auf Artefakte aus der Natur sowie aus der Kunst formten einen der Grundsätze einer »Wunderkammer«. 
Die Entstehung spezialisierter Museen, wie wir sie heute kennen und erleben, bahnte sich im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der industriellen Revolution, der kolonialen Expansionen, der naturwissenschaftlichen Durchbrüche und vor allem des Positivismus an. Sie markiert einen entscheidenden Moment in der Geschichte der Wissensorganisation und -vermittlung. Diese Transformation reflektiert den Übergang von einer Welt, in der Wissen und Kultur in enzyklopädischen »Wunderkammern« gesammelt wurden, hin zu einer modernen, in der Wissen systematisch kategorisiert und spezialisierten Institutionen anvertraut wird. Die Trennung des Wissens in verschiedene Disziplinen und deren Zuweisung zu spezifischen Museen wie z.B. Kunstgewerbemuseen, Naturkundemuseen, Ethnologische Museen oder Gemäldegalerien, hat nicht nur die Art und Weise verändert, wie wir lernen und verstehen, sondern auch, wie wir unsere kulturelle und natürliche Welt wahrnehmen.
Mit der aktuellen Kritik am Anthropozän wird auch die Spezialisierung des Wissens zunehmend in Frage gestellt, da sie zu einer weitreichenden Fragmentierung geführt hat. Fachgebundene Disziplinen neigen dazu, sich auf isolierte Aspekte zu konzentrieren und die interdisziplinäre Verbindung zwischen verschiedenen Wissensbereichen zu vernachlässigen. Die Renaissance der musealen »Wunderkammer« kann dazu beitragen, diese Grenzen zu überwinden und in Anknüpfung an die historischen Ideale wieder zu einer ganzheitlichen Sicht auf den Planeten Erde zu gelangen. 
Verknüpft mit einer »more than human«-Perspektive können zeitgenössische »Wunderkammern« zu einem Experimentalraum werden, in dem wichtige Themen wie Biodiversität, Ökologie, das Anthropozän und die Rechte nicht-menschlicher Wesen verhandelt und die vielschichtigen Beziehungen zwischen Menschen, nicht-menschlichen Akteur:innen und der Umwelt erkundet werden. Als kritische Plattformen können sie zur Reflexion und zum Handeln anregen und die Besucher:innen dazu einladen, ihre eigenen Beziehungen zur natürlichen Welt zu überdenken und die drängenden ökologischen, sozialen und ethischen Herausforderungen unserer Zeit zu erkennen.

Kuratorin
Claudia Banz (Kunstgewerbemuseum, Berlin)

Die Gehäuse des Nautilus, auch gemeiner Perlboot genannt, gehörten zu den begehrten Objekten einer Kunst- und Wunderkammer. Sie wurden extensiv gesammelt, um dann von den Goldschmieden der Renaissance und des Barock in Edelmetalle gefasst, verziert und zu Prunkgefäßen umgearbeitet zu werden. Dafür wurden zunächst die glänzenden Perlmuttschalen durch Beize oder auf mechanischem Wege freigelegt.  Nautilus-Objekte spiegeln das große Interesse an exotischen Materialien aus fernen Ländern wider und sind Ausdruck der künstlerischen Aneignung der Natur durch den Menschen. Der Perlboot, ein den Tintenfischen verwandtes Weichtier, zählt zu den lebenden Fossilien, da es ihn schon seit vielen Millionen Jahren gibt. Heute gilt der Perlboot immer noch als beliebtes Souvenir und gehört aufgrund der anhaltenden Sammelleidenschaft inzwischen zu den bedrohten Arten.

großer korallenbaum 17. jh.

Korallen waren und sind der Inbegriff rätselhafter Schönheit aus der Meerestiefe. Sie gelten als Wunderwesen, deren Faszinationskraft sich über Jahrtausende erhalten hat. Als Amulette wehren sie den bösen Blick ab. In der Antike glaubten die Gelehrten und Dichter an die Versteinerungskräfte dieser Zwischenwesen. Der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) beschreibt in seinen berühmten »Metamorphosen« den Ursprung der Korallen: Sie entstehen dadurch, dass Seepflanzen den Kopf der tödlichen Medusa berühren und versteinert werden. In den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance gehören vor allem die roten Edelkorallen zu den begehrten Objekten. Sie beglaubigen mit ihren fragilen und magischen Verästelungen die Natur als kunstvolle Schöpferin. Erst im 18. Jahrhundert erkannten die Forscher, dass es sich bei Korallen nicht um Pflanzen, sondern um winzige Tiere mit Fangarmen und Verdauungsorganen handelt. Sie leben im Mittelmeer und im östlichen Atlantik und können bis zu 100 Jahren alt werden.

tauchapparate 1616+1862

Seit der Antike nutzte der Mensch Hilfsmittel, um die Tauchzeiten zu verlängern. Bereits Alexander der Große (353 – 326 v. Chr.) soll von der Unterwasserwelt so fasziniert gewesen sein, dass er in einer Taucherglocke in die Meerestiefen vordrang. Das Prinzip war einfach: ein umgedrehtes und abgedichtetes Fass wird mit Gewichten beschwert und mit einem Tau ins Wasser hinab gelassen. Je nach Größe der Glocke konnte die Aufenthaltszeit bis zu 30 Minuten betragen. Die Taucherglocke wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten ständig modifiziert. Auch Leonardo da Vinci (1452–1519) beschäftigte sich mit verschiedenen Tauchglocken und Tauchanzügen.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewannen die Schifffahrt, die Nutzung mariner Ressourcen, aber auch die Errichtung von Wasserbauten immer mehr an Bedeutung. Im Zuge der beginnenden Globalisierung und Industrialisierung ermöglichten technische Innovationen und wissenschaftliche Erkenntnisse ein immer weiteres Eintauchen in die Tiefe des Meeres. Neben die Verbesserung von Helmtauchgeräten, die auch zunehmend in der Meeresbiologie zum Einsatz kamen, wurden die ersten praktisch einsetzbaren U-Boote entwickelt. Der französische Schriftsteller Jules Verne (1828–1905) beschreibt in seinem erfolgreichen Science-Fiction-Roman »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« (1869) wie Kapitän Nemo in seinem mechanisch angetriebenen Unterseebot Nautilus die Weltmeere befährt. 

»tv relaxer« 1968/69

»Wenn immer wir einen neuen Entwurf planen, sollten wir zuerst nach draußen in die Natur gehen«, fordert der studierte Aerodynamiker und Designer Luigi Colani. Er glaubte, dass die Natur für nahezu alle Design-Probleme bereits die richtigen Lösungen bereit hielte. Für den mitteldeutschen Möbelhersteller Kusch & Co entwarf Colani biomorphe Sitzmöbel, die körpergerecht geformt sind und dadurch einen hohen Sitzkomfort bieten. Als Inspirationsquelle für seine Relax-Möbel diente ihm das Meer. Wie an den Strand gespülte Seesterne oder Tiefsee-Organismen sehen sie aus und wurden unter dem Titel »Meereskollektion« in einer zeitgenössischen Werbekampagne entsprechend inszeniert. Neue Kunststoffe wie der Schaumstoff machten solche Formen erst möglich. Oder umgekehrt: die Formen folgten der den neuen Materialien inhärenten Logik.

tischsystem »module.mgx« 2010

Die Struktur von »Module.mgx« erinnert an ein Bündel vergrößerter vegetabiler Stengel. Sie basiert auf dem Gestaltungsprinzip der Fraktale. Morphologische Studien haben gezeigt, dass fraktale Strukturen das Ergebnis von Wachstumsprinzipien sind, die in natürlichen Evolutionsprozessen zum Beispiel von Wolken oder Pflanzenformationen entstehen. Fraktale sind ortsungebunden, der Anschauung nicht zugänglich und entstehen durch kleine, überschaubare Operationen, die in rekursiven Prozessen bis ins Unendliche wiederholt werden. Dass Fraktale aus einfachen Formen ein Art Chaos entfesseln, macht ihre ästhetische Qualität aus. 
Die komplexen Verzweigungen des Tischmoduls wurden über einen mathematischen Algorithmus in einer 3-D-Umgebung erzeugt und via Kunststoff-3-D-Druck produziert. Die Produktionsweise von »Module MCX« besitzt auch einen nachhaltigen Effekt: sie reduziert Abfall, spart Energie macht die Produktion kosteneffektiver. Die Konstruktion ist so angelegt, dass sie unendlich ergänzt werden kann.

monster 2013

PVC ist salzwasserbeständig und besonders problematisch, wenn es als Plastikmüll in den Weltmeeren landet. Schätzungen zufolge befinden sich davon bereits 150 Millionen Tonnen im Wasser, am Strand und auf dem Meeresboden. Eine sich anbahnende Umweltkatastrophe, gegen die es aber kaum Gegenmaßnahmen gibt. Etwa die Hälfte der Arten im Meer und in den Küstengebieten leidet unter dem Plastikmüll. Plastikfragmente schädigen Korallenriffe, die bereits gefährdet sind. Mikroplastik, d. h. Stücke, die kleiner als fünf Millimeter sind, findet man inzwischen in Muscheln, Fischen, Krebsen und sogar im Plankton. Über die Nahrungskette gelangt das Plastik schließlich zurück zum Menschen. Die Auswirkungen des Verzehrs von Mikroplastik auf den Menschen sind noch völlig unbekannt.
Mehr Informationen zu den Arbeiten: Weblink

symbiocean prototyp 1: kiki 2023

»Kiki« ist der Prototyp eines künstlichen Riffs, das Pionierorganismen ein Substrat und eine Struktur bietet, um ein Habitat im Mittelmeer zu bilden. Die Struktur nutzt den Prozess der Mineralakkretion (=Anwachsen) im Meerwasser durch Elektrolyse, besteht aus leitfähigem Stahlgarn und Stahlrahmen, und wird durch ein Solarpanel an Land mit Strom versorgt. Während einer sechsmonatigen Beobachtungsphase wurde der Prototyp in der Bucht der meeresbiologischen Forschungsstation STARESO — Station de Recherches Sous-marines et Océanographiques de Calvi in Korsika (FR) in 10 Metern Tiefe platziert.
Mit »Kiki« stellt Rasa Weber die Frage: Kann Design eine aktive Rolle bei der Entstehung des Lebens spielen und somit die Evolutionsgeschichte des Meeres selbst beeinflussen? Wie strukturiert, chaotisch, zentralisiert oder symbiotisch verwoben kann die Gestaltung von Lebensräumen sein? Der Prototyp dient als materialisierte kritische Auseinandersetzung mit der Technologie und dem Topos der menschlichen Allmacht im Ozean. 
Mehr Informationen zum Projekt: Weblink

© Kunstgewerbemuseum Berlin, 2024